Andacht zu Weihnachten 2020
Von Herzen gerne hätte ich dieses Jahr mit Ihnen an Heilig Abend in unserer wunderschönen Kirche gefeiert. Alles war vorbereitet. Frau Schaffert, unserer Organistin, hatte schon ein kleines Festkonzert vorbereitet, die Musiker/innen schon geübt. Auch steht der geschmückte Weihnachtsbaum im Altarraum. Die Krippe, die Herr Knötzele für uns vor Jahren gezimmert hat, stand schon im Flur und sollte, wie jedes Jahr, unter dem Weihnachtsbaum stehen.
Eines der Lieder, die wir hören sollten, ist von Paul Gerhardt: „Ich steh an deiner Krippen hier“. Für mich ist immer dann Weihnachten, wenn ich dieses Lied höre. Dieses Jahr werden wir es nicht gemeinsam singen können; doch fällt dafür Weihnachten aus?
Wie Sie wissen, höre ich gerne alten Menschen zu, denn sie haben viel erlebt und manche sind – auch wenn sie das von sich selbst so nicht sagen würden – weise geworden. Weihnachten haben sie schon siebzig, achtzig, manche neunzig Mal gefeiert; manche davon mit ihren Eltern, die schon lange nicht mehr leben, ihren Ehefrauen und Männern, ihren Kindern und Enkelkindern. Manche allein, manche in kleinem Kreis, manche mit Freunden.
Nicht immer war es so, wie in den letzten Jahren, ein lichterfrohes, musikalisches Weihnachten in einer geschmückten Kirche. Viele erinnern noch Weihnachten vor dem Krieg mit Eltern und Großeltern. Weihnachten während des Krieges ohne Vater und dem innigen Gebet, dass er gesund aus dem Tötungsfeuer zurückkommen möge. Nach 1944 war dann für die meisten das Leben in Darmstadt völlig anders. Wer die Angriffe überlebt hatte, und in der Ruinenstadt bleiben konnte, verbrachte Weihnachten in Trümmern.
Auch nach 1945 war Weihnachten nicht immer Idylle. Manche flohen aus ihrer Heimat oder wurden vertrieben, mussten mit quasi nichts neu anfangen. Als 1961 der sogenannte Kalte Krieg einen neuen Tiefpunkt erreichte, konnten sich viele Familien nicht mehr treffen. Immer wieder war in den letzten, noch von älteren Menschen erinnerten Weihnachten, das Fest bedroht.
Auch ich, der ich weder Krieg, Flucht noch Hunger kenne, habe Weihnachten immer wieder einmal als bedroht erlebt. Nicht durch brutale gesellschaftliche Ereignisse, sondern durch Konsum. Ab Dezember ging ich nur noch ungern hier in unserer Stadtmitte, die mir ansonsten das ganze Jahr über mit ihrem bunten Treiben gut gefällt. In dem lauten, schnellen Kaufrausch, vollgebimmelt mit Weihnachtsmelodien, konnte ich Weihnachtsatmosphäre nicht empfinden.
Auf dem Friedensplatz standen immer die Figuren von Jesus, Maria, Joseph und dem Ochsen. Der Esel fehlte. Er ist wohl weggelaufen in all dem Trubel.
Nichts von dem, was 2020 in dieser viralen Bedrohung geschieht, habe ich mir gewünscht; weder Maskentragen, noch Lockdown, noch Ausgehverbot. Aber es scheint der Bedrohung gegenüber als angemessen.
Was mir heute, Weihnachten 2020, Kraft gibt sind die Geschichten der Alten, die mir erzählen, wie sie in ihrem langen, oft schweren Leben, immer wieder Weihnachten in ihrem Herzen empfunden haben.
Nichts konnte sie davon abbringen, weder „Mächte noch Gewalten“, dass sie Gott in ihrem Herzen spürten. Vor dieser Glaubenstiefe stehe ich voller Achtung und auch Bewunderung.Das Zweite, das mir Kraft und Perspektive gibt, sind die alten Geschichten, wie ich sie in der Bibel finde. Immer wieder lese ich, wie für Menschen dort eine ganze Welt zusammenbricht. Und sie hören sehr bald auf zu jammern, sondern fragen, was muss ich tun, damit das nicht wieder geschieht, damit es mir wieder gut geht?
Sie fragen den unbekannten, den unsichtbaren, den göttlichen Vater von Jesus. Und sie bekommen die Antwort: Du musst dein Leben ändern!
Die aktuelle virale Bedrohung macht keinen Sinn: ein Virus ist unbarmherzig. Er fragt nicht nach gut oder böse, nach richtig oder falsch. Aber ich kann fragen, und viel anderer fragen sich auch: Was muss geschehen, damit ich wieder Weihnachten in mir spüre?
Was muss geschehen, damit Weihnachten nicht, wie in der Konsumorgie der letzten Jahre, untergeht?
Viele Menschen haben dieses Jahr für sich neu entdeckt, was wirklich wichtig ist in ihrem Leben!
Vielleicht ist diese Entdeckung das größte Weihnachtsgeschenkt. So ähnlich, wie manchen von uns, mag es auch Paul Gerhard gegangen sein, der in seinem Lied in Vers drei von seinen Ängsten schreibt: „Ich lag in tiefer Todesnacht!“, und das Lied trotz dieser Erfahrung mit den Worten enden lässt: „Eins aber, hoffe ich, wirst du mir, mein HEILAND, nicht versagen: dass ich dich möge für und für in, bei und an mir tragen. So lass mich doch dein Kripplein sein; komm, komm und lege bei mir ein dich und all deine Freuden.“
Ich wünsche Ihnen, auch im Namen des Kirchenvorstandes, eine gesegnete Weihnachtszeit; Freunde im Herzen und Vorfreude auf ein baldiges – persönliches – Wiedersehen in 2021.
Ihr Pfarrer Manfred Werner